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Museum für Photographie


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Sa, So 11.00-18.00 Uhr

Birte Hennig: October – Zwischen Steubenparade und Alpine Village. Auf den Spuren deutscher Einwanderer in den USA

04.09.2015 - 11.10.2015

Eine alte Aufnahme aus dem Familienalbum, aufgenommen in Los Angeles Ende der 30er Jahre. Eine Frau mittleren Alters posiert vor einer Schaufensterauslage. Ihr auffällig gemustertes Kleid fügt sich trotz – oder gerade wegen? – des starken grafischen Kontrastes auf eigentümliche Weise in das Bild ein; fast meint man, die Person verschmelze mit dem Hintergrund oder löse sich in diesem auf. Zugleich ist die Aufnahme durch eine unverwechselbare individuelle Geste gekennzeichnet, denn die Frau hält dem Fotografen die Figur eines Rehs entgegen. Angesichts ihres ansonsten äußerst zurückhaltenden Erscheinungsbildes erhält diese ungewöhnliche Geste zentrale Bedeutung. Die Plastik des bockenden Rehs scheint als Reminiszenz an deutsche Jägerromantik etwas zu transportieren, das der Frau ungemein wichtig ist. Ein zweites Bild desselben Albums. Die Verschiedenheit des Auftritts ist evident. Breitbeinig und sicher posiert der Mann vor seinem Ford T, in einer Aufnahme, die vom Bildvokabular der 1930er Jahre bestimmt ist. Holzhütte, Werbetafel, Telegrafenmast, Tankstelle und das im Ford T manifestierte amerikanische Versprechen grenzenloser (Auto-)Mobilität und Freiheit, die der Mann selbstbewusst für sich in Anspruch nimmt.
Für die Fotografin Birte Hennig bilden diese beiden Aufnahmen, die ihre eigene Großtante Emma und ihren Großonkel Ferdy zeigen, einen wichtigen Bezugspunkt ihrer neuen Arbeit October – Zwischen Steubenparade und Alpine Village, in der sie nicht nur die Auswanderergeschichte ihrer eigenen Familie, sondern auch die deutsche Immigrationsgeschichte in die USA zum Anlass ihrer künstlerischen Reflektionen nimmt.
In ihrer künstlerischen Arbeit befasste sich Hennig wiederholt mit dem Dazwischen, mit Differenzen, Gleichzeitigkeiten und Übergängen, die sich nur schwer greifen und beschreiben lassen. 2012 spürte sie beispielsweise in ihrer Arbeit Baumholder den wechselseitigen Assimilationsprozessen am amerikanischen Garnissionsstandort nach und zeigte auf, wie sich die Bedürfnisse und der Lebensstil der dort stationierten Soldaten in die Oberfläche der Kleinstadt einschrieb. October fungiert als spielerische Umkehrung dieser Arbeit, für die sich Hennig auf dreimonatige Spurensuche in die USA begab, um nach Indizien und Anzeichen für die anhaltende Wirksamkeit der deutschen Migrationsgeschichte zu suchen.
Emma und Ferdy dienen in dieser Erzählung als Paradebeispiel kultureller Integration von Immigranten, die zu erfolgreichen amerikanischen Geschäftsleuten wurden. Doch verdeutlichen die beiden Einblicke in das Familienalbum nicht auch exemplarisch die vielen Schritte, Stufen und Hürden der Prozesse kultureller Adaption und Assimilation? Während Ferdy das amerikanische Lebensmodel und den amerikanischen Lebensstil von Beginn an verinnerlicht zu haben scheint, scheint Emma im Dazwischen verhaftet, scheint Stabilität und Rückhalt in Form einer Devotionalie als Erinnerungsstück an die zurückgelassene Kultur zu suchen.
Hennigs künstlerische Arbeit October, die in Braunschweig erstmalig vorgestellt wird, zeigt die aufmerksame Suche der Fotografin nach den Spuren der über 300 Jahre währenden deutschen Einwanderungsgeschichte in die USA. Welchen Stellenwert kann eine deutsche kulturelle Identität für die Auswanderer heute noch haben, und was bedeuteten die Prozesse der Assimilation für die Betroffenen eigentlich? Wie erlebt man den Verlust der Allgemeingültigkeit eigener kultureller Prägung und wie gelingt es, sich an die Gepflogenheiten eines fremden Landes anzupassen? Hennig geht diesen Prozessen in einer vielstufigen Herangehensweise nach. So führte sie Interviews mit den Nachkommen deutscher Auswanderer, die sie in einer Multimedia-Installation für den Betrachter erfahrbar macht. Zugleich durchzieht die Frage der Verortung die Ebenen der Ausstellung als roter Faden. Wie gelingt es Personen, sich in einem neuen kulturellen Umfeld zu orientieren und ein stimmiges Bild ihres eigenen Lebensentwurfs zu entwickeln? Die Riten kommerzialisierter Oktoberfeste und Events wie der Steubenparade in New York City bieten Hennig hierbei Gelegenheit, Anzeichen von Differenzen und Überlagerungen kultureller Zugehörigkeiten zwischen Deutschland und den USA zu suchen. Dabei beobachtet die Fotografin teils mit Parr’schem Humor die Anzeichen kulturellen Eigensinns und versucht kulturelle Werte und Wertigkeiten einzufangen.
Where it was hingegen heißt ein Diptychon, das Hennig auf der Suche nach dem Ort und der physischen Verwurzelung ihrer Verwandten angefertigt hat. Die Orte, an denen Emma und Ferdy lebten, wirkten als Schicksalorte, die in ihrer Biographie eine entscheidende Rolle spielten, von deren individueller Bedeutung heute aber an dem realen geografischen Ort nichts mehr zu spüren ist. Wie lässt sich kulturelle Identität aufrechterhalten, wenn die äußeren Umstände im permanten Wandel begriffen sind?
In ihrer Arbeit October hat Birte Hennig metaphorische Orte ausgewiesen, die auch auf übertragener Ebene die Spuren des Übergangs verdeutlichen. Orte, Personen und das komplexe Produkt „kulturelle Identität“ werfen mit den Problematiken von „Heimat“, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit eine Fragestellung auf, die sich auch angesichts der europäischen Flüchtlingskatastrophe als ebenso allgemeingültig wie aktuell erweist.

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