Kunst Halle Sankt Gallen, Foto: Sebastian Schaub (Ausstellungsansicht "La fine ligne", mit Werken von Linus Bill + Adrien Horni)
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Kunst Halle Sankt Gallen

Foto: Kunst Halle St. Gallen
Foto: Kunst Halle St. Gallen
Kunst Halle Sankt Gallen, Foto: Sebastian Schaub (Ausstellungsansicht "La fine ligne", mit Werken von Linus Bill + Adrien Horni)
Kunst Halle Sankt Gallen, Foto: Sebastian Schaub (Ausstellungsansicht "La fine ligne", mit Werken von Linus Bill + Adrien Horni)

Davidstrasse 40
9000 St. Gallen
Tel.: 071 222 10 14
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Öffnungszeiten:

Di-Fr 12.00-18.00 Uhr
Sa, So 11.00-17.00 Uhr

Lawrence Abu Hamdan: The Right to Duplicity

11.07.2015 - 13.09.2015

Die Arbeiten von Lawrence Abu Hamdan (*1985 in Amman/JOR, lebt und arbeitet in London und Beirut) erforschen die Praxis und zeitgenössische Politik des Hörens. In Form von audio-visuellen Installationen, Performances, graphischen Arbeiten, Fotografien, forensischen Tonanalysen und Dokumentationsmaterialien untersucht Abu Hamdan die rechtliche Rolle der Stimme sowie den sich wandelnden Charakter der Zeugenschaft im Zusammenhang mit neuen Migrationspolitiken und Grenzüberwachungen, intelligenten Algorithmen und Abhörtechnologien.
In seiner bisher grössten Einzelausstellung «تقيه (Taqiyya) – The Right to Duplicity» in der Kunst Halle Sankt Gallen untersucht Lawrence Abu Hamdan die Stimme als grundlegendes politisches Instrument. Sein Interesse gilt dabei der Art und Weise, wie die Stimme Wahrheit konstituiert und welcher Stellenwert der Lüge in der heutigen alles hörenden Gesellschaft zukommt. Die neu entstandene Zweikanal-Videoinstallation Contra Diction (Speech Against Itself) bildet den thematischen Ausgangspunkt und verwendet das theologische, rechtliche und linguistische Konzept Taqiyya als den roten Faden, der sich durch die vielfältigen Arbeiten der Ausstellung zieht. Taqiyya, ein komplexer Bestandteil islamischer Rechtsprechung, wird bis heute von esoterischen Minderheiten des Islams sowie vor allem von der Glaubensgemeinde der Drusen in Palästina, Syrien und Israel praktiziert. Das Prinzip von Taqiyya, das etwa mit der westlichen Konzeption der diplomatischen Immunität vergleichbar ist, erlaubt den Mitgliedern einer Gemeinschaft, ihren Glauben zu leugnen oder gar Straftaten zu begehen, während sie sich in einem besonderen Zustand der Verfolgung oder Staatenlosigkeit befinden. Die Aussagen unter Taqiyya stehen gleichzeitig in- und ausserhalb des Rechts. Zwischen Wahrheit und Lüge installiert sich Taqiyya damit als die rechtliche Grundlage, genau jene Zwischenräume zu besiedeln.
Die Arbeiten in Abu Hamdans St. Galler Ausstellung zeigen anhand eines breiten Spektrums künstlerischer Strategien, dass Redefreiheit zwar besteht, sich die Konventionen des Hörens aber zunehmend verschoben haben. Der alles hörende Staatsapparat, der zur Basis Abu Hamdans Überlegungen wird, befördert eine Politik der totalen Transparenz, in der das Geheimnis als die grösste Bedrohung der Demokratie verstanden wird. Indem die radikale Redefreiheit zum Garant einer gerechten Gesellschaft wird, scheint der Einzelne permanent dazu angehalten, sich öffentlich zu bekennen und Zeugnis abzulegen. Zwischen dem Recht zu Sprechen und der Forderung zu Schweigen deckt Abu Hamdan eine Politik des Hörens auf, die zunehmend nach alternativen Konzepten des Sprechens verlangt.
Lawrence Abu Hamdan legt das Konzept von Taqiyya in einer Vielfalt von Kontexten und ästhetischen Praktiken offen - sei es in der Arbeit Conflicted Phonemes (2012), einer Kartographie von Akzenten, welche die gängige Praxis von Asylbehörden blosslegt, sich auf die Aussprache einer einzelnen Silbe als Beweis der Herkunft und Staatsbürgerschaft zu berufen, oder mit der Präsentation einer privaten Sammlung verfälschter Gemälde der Kolonialzeit in seiner Installation Double-Take: Officer Leader of the Chasseurs Syrian Revolution Commanding a Charge (2014). Abu Hamdan enthüllt hier die der Zeugenschaft inhärente Unzuverlässigkeit und die Absurdität westlicher Wahrheitsproduktion.
Doppelzüngigkeit (Duplicity) ist das Motiv, das uns Lawrence Abu Hamdan zwischen Dokumentation und Inszenierung, zwischen traditionellen Sprechakten und neusten Technologien der Stimmanalyse auf vielfältige Weise vor Augen und Ohren führt. Im Sinne der Taqiyya eröffnet er ein neues Verständnis von Sprache sowie vom unzuverlässigen Charakter der Stimme und ihrem Verhältnis zur Wahrheit - und hinterfragt damit die fundamentalen Bedingungen, unter denen wir sprechen, lügen oder schweigen.
Lawrence Abu Hamdan (*1985 in Amman/JOR) lebt und arbeitet in London und Beirut. 2015 war er Auftragskünstler der Armory Show in New York. Seine Arbeiten befinden sich in der Sammlung des MoMA, New York, des Van Abbemuseum, Eindhoven, und der Barjeel Art Foundation, UAE. 2013 wurde Abu Hamdans Audio-Dokumentation The Freedom of Speech Itself als Beweismittel dem britischen Asylgerichtshof vorgelegt. Seine forensischen Audio-Untersuchungen sind Teil des Forschungsprojekts über Forensische Architektur am Goldsmiths College London, wo er ausserdem Doktorand und Lehrbeauftragter ist. Einzelausstellungen (Auswahl): Beirut in Cairo (2013); Van Abbemuseum, Eindhoven (2014); Casco, Utrecht (2012); Showroom, London (2012). Gruppenausstellungen und Performances (Auswahl): New Museum Triennial, New York (2015); 44. Internationales Film Festival Rotterdam; The Shanghai Biennial (2014); The Whitechapel Gallery, London; MACBA, Barcelona; Tate Modern, London; M HKA, Antwerpen (2012).

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