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Deutsches Fotomuseum


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Öffnungszeiten:

Di-So 13.00-18.00 Uhr

Die Ästhetik der Lüste

01.01.2011 - 20.02.2011
Insbesondere die künstlerische Darstellung des menschlichen Körpers offenbart das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zur Welt. "Die Menschheit", schrieb Walter Benjamin, "die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden." Bis auf den heutigen Tag gibt es kaum ein fotografisches Sujet, das stärkere Aufmerksamkeit auf sich zieht, als der nackte menschliche Körper. Die Schilderung der menschlichen Schönheit gehört seit der klassischen Antike zu den zentralen Anliegen abendländischer Kultur. So liegt es auf der Hand, dass die Fotografie, sobald sie technisch ausgereift war, sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts des Genres Aktfotografie annahm. Ebenfalls einleuchtend ist, dass sich dem neuen Medium Fotografie um 1850 ungeahnte Marktchancen auf dem Felde erotischer Produktionen auftaten. Anfangs bewegten sich Produzenten und Konsumenten erotischer Fotografien gleichsam am Rande der Legalität, denn vielen Zeitgenossen schien im sittenstrengen Biedermeier die öffentliche Moral bedroht. Im Gegensatz zur Malerei schockierte die Fotografie durch ihre Authentizität. Die Vorstellung, dass das Modell nackt und wahrhaftig dem Fotografen gegenübergestanden hatte, war ebenso prickelnd wie außerhalb der Normen und erregte die Phantasie des Betrachters mehr als der Anblick der Nacktheit selbst. Schließlich beschränkt sich erotische Fotografie nicht nur auf das Sichtbare, sondern suggeriert sie dem Betrachter durch die Kraft seiner Phantasie und seines Vorstellungsvermögens auch Unsichtbares. Die frühen Aktfotografien waren daher stark tabuisiert und wurden, obwohl in beträchtlichem Umfang produziert, eher im Verborgenen als Pikanterien oder als "akademische Studien für Künstler" vertrieben. In einer Epoche, die in der Realität die Anschauung menschlicher Nacktheit faktisch ausschloß, war die sinnliche Wirkung von erotischen Fotografien ungeheuerlich und weil Herstellung und Vertrieb teilweise noch bis ins 20. Jahrhundert hinein strafrechtlich verfolgt wurden, blieben oftmals die Fotografen anonym. Neue Zeiten (1920 - 1950) Nach dem verheerenden 1. Weltkrieg, der die Umwertung aller kulturellen Werte beschleunigt hatte, erstreckten sich die radikalen Veränderungen der Formen der Künste auch auf die Fotografie. Auch die neuen technischen Möglichkeiten, die sich der Fotografie durch handlichere und leistungsstärkere Fotoapparate und lichtempfindlichere Filme eröffneten, führten zu einer veränderten Bildästhetik. Nunmehr konnten die Fotografen ihre Ateliers verlassen und der reformbewegten jungen Generation in die Landschaft folgen und der Freilichtaktfotografie zum Durchbruch verhelfen. Nach der Weltkatastrophe und dem Zusammenbruch der alten Ordnung stellte sich auch die Frage nach Moral und Körperlichkeit neu. Parallel zu den zahlreichen avantgardistischen Experimenten nach 1920 in Kunst und Gesellschaft entwickelte sich mit dem "Neuen Sehen" eine moderne, sachliche und dokumentarische Fotografie, die auf dem Gebiet der erotischen Fotografie eine völlig neue Ikonografie der Natürlichkeit herausbildete. Der antizivilisatorische Protest gegen Industrialisierung und Verstädterung fand in der Aktfotografie ein geeignetes Medium, sein Ideal von Körperbildung und Sexualhygiene zu propagieren. In diesem Zusammenhang gelang der Aktfotografie der Sprung heraus aus der Tabuzone ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Es entstand eine moderne Aktfotografie, die in Illustrierten und sogar in eigenen Zeitschriften ihre ungehinderte Verbreitung fand. Mit dem Ideal der Nacktheit und des körperlichen Trainings in Licht und Sonne zur Stärkung von Körper und Geist entwickelte sich eine gewisse Normalität im Umgang mit dem Abbild des nackten menschlichen Körpers. Tragischerweise wurde in Deutschland diesen modernen Ideen von Freiheit und Freizügigkeit alsbald die nationalsozialistische Propaganda von Volksgesundheit und Wehrertüchtigung übergestülpt. Deshalb sieht der heutige Betrachter diese Freilichtaktfotografien nicht unvoreingenommen. Inszenierte Wirklichkeit (1950 - 2010) Vielfach hat sich seit den Anfängen der Fotografie im Zeitalter des Biedermeier der erotische Geschmack gewandelt und die kommerziellen Fotografen haben dem Rechnung getragen. Die innovativen und künstlerisch ambitionierten Fotografen, die auf die Befindlichkeiten ihrer Epoche zu reagieren verstanden, forcierten diesen Wandel und waren wesentlich an der Entwicklung jener Bildsprachen beteiligt, die die Epochen im Nachhinein erlebbar machen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderten sich die moralischen und ästhetischen Maßstäbe in immer kürzeren Abständen und seit den 1970-er Jahren existieren die unterschiedlichsten und subjektivsten Auffassungen nebeneinander. In narrativen Tableaus und allerlei künstlichen Bildwelten werden poetische oder provokante Phantasien visualisiert. In unendlicher Vielfalt und ganz im Sinne der Philosophie einer pluralistischen Gesellschaft agieren die Fotografen als Schöpfer eigener Bildwelten. Weil die Fotografie die Trennung des Subjekts vom Körper vollzieht, gibt sie nicht nur Auskunft, sondern beeinflusst selbst aktiv das Verständnis unserer eigenen Körperlichkeit. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Nacktheit und Erotik zu einem derart strapazierten Motiv der Massenkultur geworden, dass sich für die Kunst die aktuelle Aufgabe stellt, dem Körperbild wieder Menschlichkeit zu verleihen. In diesem Kontext ist die Aktfotografie ein Seismogramm, das die Schwingungen im Wandel des menschlichen Selbstbildnisses sensibler als andere künstlerische Medien aufzeichnet.

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